HC Suhrkamp
Erschienen als deutsche Ausgabe: 11. Februar 2019
ISBN: 978-3-518-42870-2
188 Seiten
Mood
🤔🤫🖤
Content
Ein heißer Sommer an der süditalienischen Küste, Leda – knapp fünfzig, allein lebend, Mutter zweier erwachsener Töchter – verbringt unbeschwerte Tage am Strand. Sie vertreibt sich die Zeit damit, eine junge Mutter und deren kleines Mädchen zu beobachten, die innig vor sich hin spielen. Doch plötzlich verdüstert sich das Idyll und die sonst so beherrschte Leda lässt sich zu einer unbegreiflichen Tat hinreißen … (Klappentext)
Preview
Was bedeutet es, eine Frau und Mutter zu sein – und dabei eigene Wege gehen zu wollen? Mit frappierender Ehrlichkeit ergründet Elena Ferrante die widersprüchlichen Gefühle, die uns an unsere Kinder binden. Und zeigt uns die rätselhafte Schönheit und Brutalität dessen, was unser Leben ist. (Klappentext)
Review
So hört es sich an, wenn eine Mutter ganz unverblümt und schonungslos die Wahrheit über ihre Rolle als Mutter preisgibt und sie mit ihren Kindern abrechnet. In unserer Gesellschaft – und besonders in der italienischen, in der die Familie über allem steht – ist es ein absolutes Tabu, wenn eine Mutter auch nur ansatzweise etwas Negatives über ihre Kinder sagt. Dieses Tabu bricht die Protagonistin Leda mit einer solchen Wucht, dass man hofft, ihre beiden Töchter würden von der Wahrheit verschont bleiben.
Elena Ferrante thematisiert in diesem Buch den Konflikt zwischen Muttersein und Individuum sein, die Diskrepanz zwischen Familie und Kindererziehung auf der einen Seite und beruflicher Selbstverwirklichung auf der anderen Seite, das Dilemma zwischen Egoismus und Selbstaufgabe. Ihre Karriere konnte sie nur dadurch in die Wege leiten, indem sie ihre Töchter für längere Zeit verlassen hat. Katalysator für ihren Entschluss war das englische Tramper-Ehepaar, dessen Freiheit sie lange zuvor schon bewundert hat, bevor sie es ihnen gleichtat.
Da Leda nun, seitdem die Töchter groß sind, wieder allein ist, findet sie während ihres Strandurlaubs endlich die Gelegenheit, sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen und die dunklen Kapitel in ihrem Leben aufzuarbeiten.
Leda hat damals neues Leben in die Welt gesetzt und zugleich überkam sie das Gefühl, ihr eigener Körper zerfiele. Aus ihrer Sicht besteht ein Konkurrenzkampf zwischen ihr und ihren Töchtern, denn die Blicke der Männer bleiben, seitdem die beiden Mädchen Teenager sind, nicht mehr an ihr haften, sondern gleiten weiter zu ihren Töchtern. Hat sie sich einst als attraktive Frau gefühlt, schmerzt es sie, die Ignoranz seitens der Männer zu spüren.
Wer mit einem Mord oder einer Entführung gerechnet hat, wird enttäuscht. Wobei, eine Entführung gibt es doch – allerdings nicht auf herkömmliche Weise. Als Leda die Puppe der kleinen Elena stiehlt, sieht es zunächst so aus, als hätte sie sich einen Spaß aus Langeweile gemacht, doch im weiteren Verlauf „entpuppt“ sich diese Tat im wahrsten Sinne des Wortes als ein psychischer Verzweiflungsakt. Aus Banalität wird grausamer Ernst. In der Personifikation der Puppe sieht sie einerseits ihre Mädchen als auch die Szene, die sich zwischen ihr, Bianca und ihrer Puppe damals abgespielt hat. Ledas Lieblingspuppe aus der Kindheit, Mina, die ihr Eigentum war, wurde von ihrer Tochter beschlagnahmt, bekritzelt und malträtiert. Darüber hinaus erzählt die Protagonistin, wie sie für Bianca selbst eine Puppe gespielt hat, die sie anfassen und frisieren durfte – ganz im Gegensatz zu Ledas eigener Mutter, welche ihre Tochter auf Distanz hielt. Puppen und Personen fließen ineinander, was man an dem Gleichklang der verwendeten Namen erkennt: Mina, Nina, Nena, Elena die Tochter, Elena die Autorin. Alles wiederholt sich: das Muttersein, Kind sein, Puppe sein.
Indem sie dem fremden, spielendem Mädchen die Puppe wegnimmt, will sie anfangs dem Mädchen dem Leid aussetzen, dem sie damals beim Verlust ihrer Puppe ausgesetzt war, doch je länger sie die modrige Puppe behält, desto mehr setzt sie sich mit sich selbst auseinander und holt die Empfindungen wieder hervor, die sie lange Zeit in sich vergraben hatte wie eine Puppe tief im Sand.
Während sie zu Beginn ihre Kinder vehement kritisiert, kommt im Verlauf der Handlung der wahre Grund ihrer Wut zum Ausdruck: Sie macht sich große Vorwürfe und stempelt sich als Rabenmutter ab. Mit der „Entführung“ der Puppe will sie mit sich selbst abrechnen, ihre Fehler wieder ausbügeln, aber zugleich versucht sie, den Schmutz von der Puppe zu befreien.
Obwohl Leda Nina nicht kennt, spielt sie eine immer größere Rolle für ihr weiteres Leben. Sie sieht in ihr ihr eigenes, früheres Ich und will sie wieder auf den rechten Weg führen; Nina ihrerseits erhofft sich für ihre Zwangslage eine Antwort von Leda.
Voyeurismus spielt eine zentrale Rolle in Elena Ferrantes Werk: Zuerst denkt man, nur Leda beobachtet die anderen am Strand, doch dann stellt sich heraus, dass auch sie von den anderen beobachtet und analysiert wird. Der Strand stellt eine Theaterbühne dar, auf der sich das Hauptgeschehen abspielt.
Doch warum heißt das Buch „Frau im Dunkeln“? Zum einen weil Leda dunkle Geheimnisse mit sich herumschleppt, zum anderen wird hier mit Farbkontrasten gespielt: In der grellen Sonne am Strand kommen ihre Geheimnisse ans Licht, obwohl sie sich erst unter ihrem Sonnenschirm im Schatten versteckt. Sie wird deshalb in die Szenerie des Strandes involviert, weil sie einen entscheidenden Eingriff in die privaten Belange der neapolitanischen Großfamilie wagt. Was zunächst vielleicht nur eine Kurzschlussreaktion war, entfaltet sich zu einem Drama für beide Seiten.
Dennoch geht die Geschichte glimpflich aus. Dadurch dass die Geschichte aus Ledas Sicht erzählt wird, erfährt der Leser nämlich nichts über die Ansichten der Töchter. Leda behauptet, sie hätten ihren Abschiedsbrief damals nicht gelesen. Aber stimmt das? Für die Mädchen war es ebenso schwer, ihre Mutter für so lange Zeit zu verlieren. Und trotzdem haben sie es akzeptiert. Das erkennt auch Leda, als ihre Töchter sie wider Erwarten doch anrufen.
Best Quote
„Im Grunde ist ja alles nur lebende Materie, zufällig aus langen organischen Ketten entstandenes Fleisch.“ (S. 46)
Learning
Elena Ferrante zeigt uns viele verschiedene Facetten von Mutterschaft und deutet damit an, dass auch negative Gefühle durchaus dazugehören können. Es ist nur wichtig, sich damit auseinander zu setzen, anstatt diese Empfindungen zu tabuisieren oder zu verdrängen.